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LR Christa Gangl, Prof. DDr. Nikolaus Dimmel, Landesvolksanwalt Dr. Johannes Pezzei, Prof. Mag. Dr. Reinhold Gärtner, Mag. Stefan Schnegg.

„Zugang zum Sozialsystem – Das eigene Hemd ist mir näher als ..."

Am 26.11.2002 im Kulturhaus Bierstindl in Innsbruck

Der Diskussionsbogen spannte sich vom Tiroler Sozialhilfegesetz über diverse Sozialversicherungsmechanismen in Österreich bis zu sozialpolitischen Ausrichtungen der EU. Die Armutsdebatte begann in den 80er Jahren aufgrund struktureller Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Das Ende der Vollbeschäftigung, die steigende Anzahl alter Menschen, und der Strukturwandel in der Familie waren die Auslöser. 2001 sind 1,1 Mio. Menschen in Österreich armutsgefährdet, d.h. sie verdienen weniger als 50% des Durchschnittseinkommens. 400.000 sind arm.

Die Armutsbekämpfung durch die Sozialhilfe wurde in den 70er Jahren für besondere Einzelfälle konzipiert und kann die mittlerweile fast regelhaften Krisensituationen (z.B. durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit) nicht mehr abdecken. Die staatlichen Hilfssysteme sind heute strukturell überfordert. Nur 5% des Sozialbudgets gehen in Sozial- und Behindertenhilfe und es entstehen neue von Armut betroffene Gruppen: Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter, Ausländer, Behinderte, psychisch Kranke.

Das Fehlen eines gesicherten Mindesteinkommens und die großen Hürden am Weg zur Sozialhilfe (Scham, Abschreckung, mangelnde Information, Regressforderungen) sind die beiden Hauptgründe, um über den sozialen Rand in die Armut zu rutschen. Äußerst komplex sind Vorschriften bezüglich der Ansprüche auf Sozialhilfe, die Betroffenen sehen sich oft einem undurchdringlichen bürokratischen Dschungel gegenüber. Im letzten Jahrzehnt kam es so zu einer Zunahme der Anfragen in Sozialfragen beim Landesvolksanwalt um das Zehnfache. Absicht?

Zu glauben, durch "die Sozialhilfe" ein geeignetes Auffangsystem zu haben, wäre Realitätsverweigerung. Um aber umfassend soziale Armut zu verhindern, sind breite Umstrukturierungen im Vorfeld des Sozialsystems dringend nötig, damit die Existenz derer gesichert wird, die nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen können. So kann beispielsweise überhöhten Wohnungspreisen nicht über Zuschüsse durch Sozialhilfe begegnet werden.

Die herkömmlichen Sozialsysteme drohen allein durch die höhere Lebenserwartung der Durchschnittsbevölkerung zu kollabieren. Es existieren EU-Programme für Benachteiligte am Arbeitsmarkt, Ausbildungs- und Umschulungsprogramme werden gefördert. Allgemeine Stoßrichtung: längeres Verbleiben im Arbeitsprozess bis ins höhere Alter und Wiedereingliederung von Personen mit geminderter Erwerbsfähigkeit und von Arbeitslosen. Dies jedoch in einer Zeit in der Arbeit zur Mangelware wurde. 391.- Euro Sozialhilfe/Monat können kein menschenwürdiges Leben garantieren. Bedürftige sind oft Bittsteller bei den Ämtern, Armut wird als individuelles Versagen dargestellt. Der Zustrom zur Sozialhilfe steigt, da andere Systeme, die soziale Sicherheit im Vorfeld sichern, abgebaut werden. Gleichzeitig scheint die Bereitschaft zur sozialen Solidarität in der breiten Bevölkerung abzunehmen.